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Das freisinnige Blog von Fritz Schmude.

Aus der Causa Gergiev lernen

2022-03-01 20:30
Die Landeshauptstadt München hat den Star-Dirigenten Valery Gergiev, bislang künstlerischer Leiter der Münchner Philharmoniker, freigestellt.
Seither erhebt sich im Internet ein Entrüstungssturm, dies wäre doch Gesinnungsdiktatur, und was könne denn der einfache Russe usw.

Im Folgenden soll dargelegt werden, warum diese Entrüstung fehl am Platz ist.

1. Gergiev war bislang nicht "einfacher Russe", sondern tatsächlich Putinist


Dafür gibt es massenhaft Belege. Es ist auch nicht so, dass er Putin nur in der Anfangszeit unterstützt hätte, als jener noch als normaler Politiker gelten konnte.
Die Unterstützung und Solidarität für Putin wurde von Gergiev besonders an kritischen Punkten (Georgien/Südossetien, verfassungs-innovative Wiederwahl 2012, Krim-Annexion) und bis zuletzt geleistet.
Eine Frage nach seiner jetzigen Positionierung ist daher sehr naheliegend.

2. Missachtung der Münchner Bürger


Valeri Gergiev bekommt aus der Münchner Stadtkasse nicht wenig Geld.
In dieser Situation auf eine direkte Anfrage des Oberbürgermeisters einfach eine halbe Woche lang nicht zu antworten, ist eine glatte Unverschämtheit.
Der Münchner OB wurde zwar nicht von mir, aber doch von 71% der Münchner Bürger gewählt.
Als Ex-Münchner nehme ich dieses unkollegiale Verhalten fast schon persönlich.
Einem genialen Künstler gestehe ich ein paar Exzentritäten zwar zu, aber Exzentrismen finden nicht im luftleeren Raum statt.
Handlungen, in diesem Fall Nicht-Handlungen, haben Folgen. So ist dieser Planet nun mal.
Der Rausschmiss geht für mich also schon unabhängig von politischen Gesichtspunkten völlig in Ordnung.

3. Auch "einfache Russen" müssen jetzt Position beziehen


Die meisten Menschen sind unpolitisch, zumindest sagen sie das von sich und sie empfinden es auch so.
Das ist aber nicht die Realität.
Alle politischen Schweinereien dieser Welt finden nicht nur statt, weil sie Unterstützer finden.
Sie finden auch deshalb statt, weil die Mehrheit der Bürger von Propaganda eingelullt und "unpolitisch" ist.

Bei besonders großen kollektiven Politverbrechen ist es also nicht nur legitim, die jeweiligen Zeitgenossen nach ihrer Positionierung zu befragen,
es ist sogar geboten, um der Propaganda entgegenzuwirken.
Hätte es nach dem 2. Weltkrieg die kritischen Fragen von Ausländern und Nachgeborenen an die damaligen Opfer, Mitläufer und Täter nicht gegeben,
so hätten all die individuellen und gesellschaftlichen Lernprozesse der damaligen Zeit nicht stattgefunden.
Es tut weh, zu erkennen, dass die gaanz grooße gemeinsame Sache, für die man selbst aktiv war, in Wirklichkeit eine Riesendummheit oder sogar ein Riesenverbrechen war.
Ohne diese schmerzhaften Erkenntnisse wäre die Etablierung des Grundgedankens von Freiheit und Demokratie in Deutschland nicht möglich gewesen.

Ich bin sogar der Meinung, dass das Ausbleiben einer derartigen Aufarbeitung nach dem Ende der DDR für viele Probleme des heutigen Deutschland wesentlich verantwortlich ist.

Es ist in Ordnung, heute lebende Russen nach ihrer Positionierung zu befragen.
Natürlich muss dies im Sinne Sokrates'scher Geburtshilfe geschehen, nicht im Sinne von Belehrung.
Propaganda kann nur durch eigene Erkenntnis besiegt werden.

4. Die eigentliche Kriegsursache: Putinismus


Seit dem 22. Februar haben wir in Europa eine Situation, die es seit Hitler nicht mehr gegeben hat:
Einen Krieg, dessen Ziel es ist, eine Propaganda-Phantasie in die Wirklichkeit umzusetzen.
Es gibt keine Bedrohung Russlands durch das Verteidigungsbündnis NATO.
Die von den Putinisten in der Ukraine gesichteten "Nazis" sind dort nicht häufiger als in anderen europäischen Ländern, noch nicht mal häufiger als in Russland selbst. All das sind Ausreden.
Ursächlich für den Krieg ist die in der russischen Propaganda schon seit vielen Jahren präsente Vorstellung, dass es Russlands Aufgabe wäre, nicht seinen Bürgern ein anständiges Leben zu ermöglichen oder in der Welt eine gute Rolle zu spielen, sondern von sich selbst eine größere Landkarte zu zeichnen.
Wenn alle daheim im Reich sind, bricht dann irgendwie das Paradies aus.
Dass solchermaßen andere Völker zwangseingemeindet werden, die das gar nicht wollen, ist in dieser Vorstellung kein Hindernis.
Die russischen Bürger selbst sollen ja schon keine Individualität ausleben, das wäre ja westliche Dekadenz.
Sie sollen der großen gemeinsamen Sache dienen und die Eingemeindeten sollen das dann halt auch.
Die Putinisten sprechen von "Entmilitarisierung und Entnazifizierung".
Dieses Begriffsdoppel war bislang für Nazideutschland reserviert. Es bedeutet Besatzung und Beendung der Souveränität.
Es soll also nicht nur außenpolitisch, sondern auch innenpolitisch für angeschlossene Völker keinerlei eigenen Spielraum geben.
Sogar die Finnlandisierung (außenpolitisch Kolonie, aber freiheitliche Verhältnisse im Inneren) ist damit ausgeschlossen. Es könnten ja dann Gegner der guten Sache, also "Nazis", gewählt werden.

Für heutige Westler klingt diese Gedankenwelt verrückt und das ist sie ja auch.
Antiliberal und antidemokratisch ist sie sowieso.
Doch für allzuviele "unpolitische" Russen ist diese Gedankenwelt die Realität, denn sie hören seit vielen Jahren nichts anderes.

Es ist überlebenswichtig, jeden Russen einzeln aus dieser Gedankenwelt herauszuholen.
Solange das nicht mehrheitlich passiert, werden Russlands Nachbarn nie Ruhe haben.

Jeden Russen? Jeden vierten Deutschen schon auch.

Die Vorstellung, dass "das Gemeinwohl" wichtiger ist als die Freiheit einzelner Menschen, ist bei uns auch präsent.
Roter und brauner Sozialismus haben in meinem Heimatland ganze Arbeit geleistet.
Es ist kein Zufall, dass die drei Putin-Parteien in Deutschland (SPD, AfD, Linkspartei) auch exakt die Parteien sind, die mit individueller Freiheit und folglich mit dem Westen, den USA, der NATO am wenigsten anfangen können.
Die SPD zeigt in diesen Tagen unendliche Flexibilität und wird sich rauswieseln können.
Die beiden anderen Parteien werden dem Putinismus wohl bis zuletzt die Stange halten.
AfD und Linkspartei sind weniger korrupt als die SPD und halten so an ihren antiliberalen, antiwestlichen "Überzeugungen" fest.

Staaten haben die Aufgabe, für ihre Bürger da zu sein. Niemals umgekehrt.
Wer das versteht, der hat Hitler, Putin, Panturkismus, Islamismus, Kommunismus und alles übrige überwunden.

"Meinungsfreiheit"? Gewiss.
Aber sicher nicht darauf verzichten, der Propaganda durch das Einzelgespräch, durch Widerspruch, durch Einforderung von Positionierung entgegenzuarbeiten.

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